Die erste Reise von Jean-Baptise
ist eine richtige Weltreise und gleichzeitig eine von der Musik begleitete
Studienreise, dazu bestimmt, von genauen Standorten auf dem Globus aus
die Deklination der Sterne und ihren Einfluss sowohl auf die Atmosphäre
als auch auf die Pflanzenwelt zu bestimmen. Am 29. November 1889 sticht
die "Dubourdieu" in See, um der Reihe nach die Kanarischen Inseln (11.
Januar 1890), Senegal (25. Januar), Singapur (3. Juni), Honolulu (15. Juli),
Tahiti (15. und 25. August), Noumea (17.-21. Oktober), Sydney (30. Oktober
bis 3. November), Peru (3. April 1891), Kalifornien (31. Juli), Venezuela
(23. September) zu passieren und schließlich über Trinidad (29.
September) nach Frankreich zurückzukehren.
Der Rang eines Tambourmajors, eine in der militärischen
Hierarchie obligatorische Stufe, die Jean-Baptiste erreicht hat, scheint
ihn kaum zufriedenzustellen. Sein Ehrgeiz treibt ihn dazu, sich im Oktober
1891 für weitere fünf Jahre zu verpflichten. Im 3. Infanterieregiment
der Marine ist er nunmehr Claironbläser und schließlich zweiter
Kapellmeister. Das ist schon nicht schlecht, aber warum nur zweiter, wenn
man doch erster Kapellmeister werden kann? Sein Aufstieg ist sicherlich
einer der schnellsten, aber die fünf Jahre vergehen und seine Karriere
verzögert sich. So verpflichtet er sich ein drittes Mal, diesmal für
zwei Jahre, im selben Regiment (1896-1898). In der Zwischenzeit jedoch
hat er nicht wenig gearbeitet: Im Konservatorium von Lyon, in welches er
sich 1893 eingeschrieben hat, benötigt er nur ein Jahr, um einstimmig
einen ersten Preis im Querflötenspiel zu gewinnen (Oktober 1894).
Die nun folgenden Jahre sollen seine Wünsche
endlich völlig erfüllen. Von April 1897 bis März 1989 nimmt
er mit der kolonialen Infanterie am Madagaskar-Feldzug teil. Bei seiner
Rückkehr verlängert er seine Militärzeit ein weiteres Mal
um vier Jahre im 4. und 6. Marine-Infanterieregiment und wird Kapellmeister.
Sein Ziel ist erreicht, und an der Spitze der Armeekapelle nimmt er von
Juni 1900 bis August 1901 am Tonkin-Feldzug teil. Nachdem er 1902 zurückgekehrt
ist, quittiert er den aktiven Dienst und gehört nunmehr dem 7. Reserveregiment
der kolonialen Infanterie an. Zur selben Zeit wird er erster Flötist
des städtischen Orchesters von Biarritz. 1903 gehört er zum 49.
Reserveregiment der Infanterie des Heeres an, bei welchem er bis zum Jahr
1913 bleibt, in welchem er diesem endgültig, im Alter von 46 Jahren
und nach 25 Jahren Militärdienst, den Rücken kehrt.
Manch anderer würde nun
diesen wahrhaftig verdienten Ruhestand genießen, aber Jean-Baptiste
LEMIRE ist nicht der Mann dazu, die Hände in den Schoß zu legen.
Für ihn beginnt nun eine wahre Orchester-Tour-de-France. Sein Sohn
wird ihn einmal als großen Reisenden bezeichnen. Nachdem er Biarritz
verlassen hat, begibt er sich 1904 nach Saint-Claude (Jura) und fungiert
von 1906 bis 1907 als Kapellmeister der Musique l'Espérance von
Morez. In den Spielzeiten 1909 und 1910 ist er Leiter des Grand Théâtre
von Lyon und gleichzeitig, vom 1. März 1910 an, Leiter der Union Musicale
von Amplepuis (Rhône). Zu Beginn des ersten Weltkriegs verlässt
er die Union, um sechs Monate lang (1916) das Orchester von Lalinde (Dordogne)
zu leiten.
Im Jahr 1917 kehrt er nach Lyon zurück;
dort wird auch sein Sohn Jean (1917-1987) geboren, der der zweiten Ehe
mit Elisabeth ROMEUF (1894-1966) aus Saint-Ferréol-d'Aurore (Haute
Loire) entstammt. 1918 wird er in Belfort empfangen und 1919 in Colmar,
seiner Geburtsstadt, wo er kurzzeitig als Dolmetscher in der Verwaltung
tätig wird. Der Kreis seines Lebens scheint sich geschlossen zu haben
- doch das ist ein Irrtum, denn am 24. Mai 1921 wird Jean-Baptiste Lemire
Leiter des Orchesters der Papeteries du Souche in Anould (Vogesen) sowie
des Orchesters der Ehemaligen Militärs der Stadt Lyon.
In den beiden folgenden Jahren verliert sich
seine Spur. Ohne Zweifel bleibt er in Lyon bis zum Jahre 1931, in welchem
er die Stadt endgültig verlässt. Erstaunlicherweise findet man
ihn in diesem Jahr im Departement Sarthe wieder. Woher kommt dieser ferne
Ortswechsel? Sein Sohn Jean, der zunächst Schüler in der Militäranstalt
von Autain war, kam anschließend, jedoch erst zwischen 1936 und 1938,
in die Militäranstalt Prytanée de la Flèche, was keine
Erklärung für den vorherigen Aufenthalt seines Vaters ist.
Wahrscheinlich ist der Grund
für den Umzug Jean-Baptiste Lemires an die Sarthe ein völliger
Rückzug ins Privatleben: Er gibt das Dirigieren auf und widmet sich
lediglich noch dem Musikunterricht. 1935, nachdem er mit dem kolonialen
Militärorden von Madagaskar ausgezeichnet und in den Rang eines Ordensritters
von Anjouan des Comores erhoben wurde, richtet er sich in Saint Germain
du Val ein. Dort residiert er bis zum 26. Februar 1945, an welchem er in
das Hospital von La Flèche eingeliefert wird, wo er am 2. März
verstirbt. Seine Ehefrau verlässt Saint-Germain und die Sarthe erst
1948, um ins Elsass und zu ihrer Familie zurückzukehren.
Ein guter Lehrer, ein exzellenter
Musiker.... ein begabter Musiker, möchten wir anmerken. Jean-Baptiste
Lemire hat offenbar erst mit dem Komponieren begonnen, nachdem er Kapellmeister
geworden war. In seinem Werkeverzeichnis findet sich keine beträchtliche
Anzahl von Stücken; auch haben sie nicht den Umfang einer Symphonie
oder Oper, dennoch sollte man seine Produktion nicht vernachlässigen.
Jean-Baptiste Lemire hat lediglich "Musik unter freiem Himmel" komponiert,
ein Genre, das von vielen als minderwertig betrachtet wird, das er jedoch
gut genug kannte, da er es selbst viele Jahre lang ausgeübt hatte.
Ohne in überflüssige Polemik zu verfallen,
möchten wir doch ausdrücken, dass die Musik, wäre sie nur
einer Elite vorbehalten, wäre sie nur der reichen und intelligenten
Klasse zugänglich, jenen, denen eine lange Ausbildung es ermöglichen
würde, all ihre Geheimnisse zu ergründen, ihre vornehmste Bestimmung
verfehlen würde, vor allem eine soziale Kunst zu sein. Ihre Kommunikationsmöglichkeiten
mit dem Volk sind zahlreich und keine dieser Möglichkeit darf aus
welchen Gründen auch immer vernachlässigt werden. Jedes musikalische
Genre - leicht oder ernst - hat seine Rolle, seinen Platz, sofern es sich
um schöne Kunst handelt. Die leichte Musik, mit welcher sich einst
ein Johann Strauß unsterblichen Ruhm erwarb, ist sie nicht eines
Tages "große" Musik geworden? Ist sie nicht auf ihre Weise ebenso
wundervoll wie andere "große" Stücke im Repertoire? Vermittelt
sie nicht ebenso viel Freude?
Die Musik von Jean-Baptiste
Lemire ähnelt ihr in vielerlei Hinsicht. Märsche, Walzer, Polkas,
Tänze... alle Vorlieben seiner Zeit, nicht zu vergessen die für
einen Militärkapellmeister unumgänglichen Formationstänze
(pas redoublés) wie z. B. "Rubis sur l'ongle" (Paris 1906), welches
je nachdem energisch, glänzend oder sanft erklingt. Für die Querflöte,
sein Instrument, komponiert Jean-Baptiste einerseits Stücke mit Klavierbegleitung
wie "Solo für Flöte" (Lyon 1905), welches aus einer Suite unterschiedlicher
Tonarten besteht, andererseits mit Orchesterbegleitung wie "Erimel" (Lyon
1905) oder "Le Bouvreuil" (Paris 1907), Stücke von großer Virtuosität.
Für das große Orchester gibt es eine lange Liste von Werken;
wir nennen hier nur das lieblich-lebhafte "Acante-Scottisch" (Lyon 1903),
das frühlingshafte "Souvenir d'Alsace" (Walzer, Lyon 1905) oder der
"Colmar-Marsch" (Lyon 1905), aufrichtig und entschlossen, oder auch die
träumerisch-neckische "Riri-Polka".
Hinter dem Äußeren
des Befehlshabers verbarg Jean-Baptiste Lemire eine große Sensibilität
und eine feste Mentalität. Er verstand die einzigartigen Klangfarben
des Militärorchesters zu nutzen, deren unterschiedliche Instrumentenfamilien
er nach seinem Geschmack miteinander verband oder einander gegenüberstellte.
Seine Melodien besitzen Frische und Eleganz, die ihr oft unkonventionelles
Format leicht vergessen lassen, seinen kompositorischen Konstruktionen
verstand er harmonische Einfachheit zu verleihen, ohne sie jedoch auf ihre
tonalen Grundbestandteile zu reduzieren, wie man es oft in diesem musikalischen
Genre findet. Und schließlich bevorzugte er bestimmte Rhythmen, indem
er hier ihre Strenge und dort ihre Sanftheit betonte.